Dienstag, 4. Mai 2010

Erinnerungsartistik

Richard Obermayer: Das Fenster (Jung und Jung 2010)

Das ist ja ganz gut gemeint, wenn sich wer verpflichtet fühlt, mir mit zu teilen, man möge das Buch langsam, in vielen Etappen lesen. Aber hallo!
Dankesehr, ich mach das, wie ich will. Und ja, Daniela Strigel hat Recht, es wäre schade, das Buch in einem Satz/Tag/Zug durch zu lesen.
Das hat mehrere Gründe. Das Fenster kreist um ein Thema, diese Umkreisungen unterscheiden sich sehr wohl, setzt man ab, hat man was davon, zieht man das Buch durch, entgehen einem die Nuancen.
Wenn man gewillt ist, das Buch – und jetzt die grausame Formulierung – mit Gewinn – zu lesen, dann schnallt man das. Das Fenster ist kein Ich-steig-in-den-Zug-fahr-5-Stunden-und-les-ein-Buch-Buch, das nicht, aber deshalb braucht man nicht solche Warngeschütze auffahren.
Man kann ja auch eine halbe Stunde lesen, dann eine halbe Stunde aus dem (Zug)Fenster und in sich selbst schauen, ja, sich selbst Gedanken machen und dann wieder lesen und ja, ich denke, wenn man das Gefühl hat, dass es reicht, dann ist man als Lesender durchaus in der Lage, sich anderweitig zu beschäftigen.
Im Zweifel für das Buch, sollte doch die Devise sein, nicht? Das Fenster ist große Erinnerungsarbeit auch Erinnerungsartistik ohne Netz und doppeltem Boden.
"Immer noch findet die Erinnerung etwas, greift tief hinein und holt etwas heraus, und ich wundere mich, so etwas in mir zu haben, von dem ich nichts wusste und bis dahin nichts fühlte.“ (S. 216/217)

Die Bereitschaft an diesem Projekt zu Scheitern ist bemerkenswert. „Mein Leben war ganz durch die Erinnerung an mein Leben ersetzt.“ (S. 197) Der Versuch etwas wirklich Eigenständiges zu machen, diese Möglichkeiten der Literatur auszuloten, niemanden direkt zu bedienen aber allen etwas vor den Latz zu knallen, lässt einen ehrfürchtig werden.

Richard Obermayer löst einen Prosaschuss aus, lässt einen Romanschwall vom Stapel, der leidenschaftliche Leserinnen und Leser treffen muss, nein, soll, ja, wohl fürher oder später treffen wird.