Freitag, 18. März 2011

Sprach-, Ohr-, Bilderrausch

Schöner Zufall. Gestern hab ich im Flieger nach Berlin „Die Frequenzen“ fertig gelesen und der gute Clemens J. Setz hat gestern in Leipzig den Buchpreis zugesprochen bekommen. Für sein neues Buch ("Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes") wohlgemerkt.
GRATULATION!
Dennoch soll es hier nun um den 2009 im Residenz Verlag erschienen 714 Seiten Roman „Die Frequenzen“ gehen. Ich halte mich kurz, was schwer ist und bereue, dieses großartige Buch nicht schon früher gelesen zu haben.

Dieser komplexe Familienroman kann einen inhaltlich nicht kalt lassen.
Erster Handlungsstrang: Vater verlässt Familie aus Scham, taucht später wieder auf. Mutter leidet unter Vergesslichkeit. Der Ich-Erzähler Alexander Kerfuchs arbeitet als Pfleger in einem Altersheim, verliebt sich in die Therapeutin Valerie, die später niedergeschlagen wird. Lydia ist seine hartnäckige Langzeitfreundin. Die Arbeitskollegen und Hausmitbewohner sind alle auf ihre Weise durchgeknallt. Es rauscht in Ohren und Gehirnen und dann hat Alex auch noch ein ungeliebtes Kind (Gerald) an der Backe.
Zweiter Handlungsstrang: Walter ist Sohn des berühmten Architekten Zmal. Früher schrieb er, dann spielte er für Valerie Patientenrollen, seinen Platz im Leben findet er aber weder in der Kunst noch in der Liebe, weder als Geliebter von Joachim noch von Gabi (die er in der Therapiegruppe kennen lernt). Er ist eine jämmerliche Figur mit Waschlappenfreunden. Alex und Wolfgang kennen sich schon seit Kindheitstagen, verlieren sich dann aber lange aus den Augen.
Und dann gibt es noch die rätselhaften Alten: Messerschmidt (Vater von Valerie), die Großeltern und den Vermieter Steiner. Figuren zuhauf, Nebenfiguren auch, die dann alle in irgend einer Form wieder auftauchen.

Der Autor hat also keine Scheu vor großen Themen (Vaterbeziehungen, Herkunftskomplex, Tod, Liebe, Sex und Krisen aller Art) und als Fleißaufgabe vergisst er auch nicht darauf, sämtliche Großereignisse der vergangenen drei Jahrzehnte nebenbei einzustreuen (Tschernobyl, Sonnenfinsternis, Milleniumcrash,...) So weit, so inhaltsreich.

Mich freilich fasziniert mehr die kühne, verschlungene und doch so natürlich wirkende Gesamtkomposition. Das große, so anders gestaltete Ganze. Mich faszinieren die auf so unterschiedliche Weise formal gestalteten Kapitel: Listen, Fragebögen, Briefe Reden, Mini-Dramen, Lexikoneinträge, Telefongespräche ins Nichts als Waffe und Ablenkungsmanöver („Lautes Sprechen ist viel natürlicher als Denken.“), …
Mich fasziniert die sprachliche Umsetzung von Alexanders Phantasieausritten und Abschweifungen in die Welt der Wahrnehmungsübergriffe, mich fasziniert die Belebung der Dinge und die Verschmelzung der Sinne (als Beispiel für ein charakteristisches Kapitel seien die Seiten 480-487 nahegelegt, in „Der Pferdebiss“ kommt so ziemlich alles vor).

Ich rekapituliere. In „Die Frequenzen“ geht es: Um Störungen, um unfassbare Ereignisse und deren Auswirkungen auf die Beteiligten. Um ein Aufheben des linearen Erzählens und des Zeitempfindens und um Risse in der Familienstruktur.

„Was passiert, passiert immer jetzt, es taucht auf, pflanzt seine Koordinaten in die Wirklichkeit und das war's. Es lässt dich dumm zurück, ohne irgendwelche Hilfsmittel, Innen-Außen-Vexierspiele, endlose Dialogleitern oder die vollendete Feigheit eines Perspektivenwechsels, eine zwischengeschaltete Stimme, die niemand kennt und die nichts bedeutet.“ (S. 358)
Man könnte sagen: Zuviel des Guten und hätte ich nicht gerade die Zeit, wäre mir dieser Wälzer vermutlich auch zu viel. Denn in „Die Frequenzen“ steckt Stoff für mehrere Romane. Aber gut. Da kann einer offenbar dauern, sprudelt unaufhörlich und wenn das alles derart qualitativ hochstehend ist, dann nur heraus damit.